Leseprobe "Fleischroboter" (aus: Island Universe)
FLEISCHROBOTER
Ich liege da und in mir tobt ein Kampf zwischen Leben und Tod. Hundsgemeine Gedanken überfallen mich, trachten mir nach dem Lebenstraum. Die Macht des seelenlosen Fleischroboters, der ich am Tage, von Montag bis Freitag, zwischen neun und siebzehn Uhr, selbst bin, überwältigt mich. Eine für die Wirtschaft gezeugte und gedrillte Maschine, die es mir letztendlich nicht mehr gelingt, vollständig zu demontieren. Im Gegenteil, der Fleischroboter wird von Tag zu Tag stärker, kapitaler, und ich schreibe mit aller Macht gegen ihn an.
Jetzt, unzählige unveröffentlichte Novellen, Kurzgeschichten und Gedichte später, scheint mein Traum von der Schriftstellerei ausgeträumt: Nicht, weil ich nicht mehr schreibe; nicht, weil ich nichts mehr zu sagen habe; nicht, weil keine Ideen mehr in meinem Kopf kristallisieren; nicht, weil mein Traum unrealistisch ist, nein. Sondern, weil ich keine Kraft mehr habe: Der Fleischroboter! Der Fleischroboter, der mir das Konto mit Geld füllt, leert gleichzeitig meinen Schädel und wringt mir den letzten Tropfen Energie aus den Synapsen; der Fleischroboter ernährt sich von meinem Traum, labt sich an ihm von Montag bis Freitag, von neun bis siebzehn Uhr, und speit mich abends gut durchgekaut auf mein Sofa; der Fleischroboter gewinnt über mich, langsam aber sicher. Komme ich abends nach Hause, bin ich todmüde, ein verzweifelter Untoter, der in leerer Lethargie herumlungert. Bleibe ich liegen, stirbt mein Traum – dann stirbt auch der Fleischroboter. Deshalb lasse ich die Fleischroboterkluft fallen und ziehe mir ein schickes Hemd und ein Sakko an. Und dann gehe ich aus.
Ich brauche die Menschen: Sie sind eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Ich klebe mich an sie wie ein Blutegel, ich belausche sie, rede sie ungefragt, oftmals unverschämt an; ich führe mit ihnen Schmäh, als kennen wir uns seit Jahren; irgendwann kommt dann der Punkt, wo aus dem 9-5-Zombie wieder ein Mensch wird, ein Gefühlsmensch, dessen Herz vor Aufregung schlägt, wenn ihm die Ideen wie Pfeile durchs Gehirn schießen.
Ich setze mich dann ins nächste Kaffeehaus, schlage mein Heft auf und schreibe, schreibe gegen den Fleischroboter, der mich von Montag bis Freitag, von neun bis siebzehn Uhr, zum geistlosen Zombie absterben lässt, meine Faulheit, meinen Wunsch nach Ruhe und meine vielen anderen Unzulänglichkeiten, kurzum: meinen Makel – meine Menschlichkeit! – heimtückisch ausnutzt. Es gibt Tage, Wochen, da mache ich keinen Schritt in meinem Sakko, da schreibe ich kein einziges Wort, da lese ich keinen einzigen Satz in der für mich so lebensnotwendigen Literatur. Und ich merke, wie ich mir selbst abhandenkomme, wie mich der Fleischroboter überwältigt, mich verdaut und mich erbarmungslos schuften lässt. Es kommt sogar soweit, dass ich die fundamentale Falschheit des Fleischroboterdaseins anzweifle. Mein Traum verkommt zur Seifenblase, die jede Sekunde platzen kann. Drastische Mittel wären erforderlich, aber der Fleischroboter ist schon zu stark. Ihn zu demontieren scheint mir unmöglich. Er kann meine schon geschriebenen Worte und Sätze nicht mehr zunichtemachen, doch von Tag zu Tag kostet er mich mehr Überwindung. Hindert mich so am Ausgehen. Stürzt mich in die Verzweiflung des Künstlers, der keine Energie für seine Kunst aufbringen kann. Was ist mein Leben ohne meinen Traum? Was bleibt von mir, wenn ich mich dem Fleischroboter ergebe? Werde ich dann erwachsen? Erwachsen werden ist etwas für Leute, die nichts Besseres mit ihrem Leben anzufangen wissen. Deshalb muss ich ausgehen. Im schlimmsten Fall auch ohne Hemd und Sakko. Einfach weg und gehen. Meine Inspirationsquelle anzapfen, den Leuten auf den Zahn fühlen. Meine Kraft ist nur mehr rudimentär vorhanden. Die Menschen hören mich nicht, nehmen mich kaum war. Ich gebe es auf und will ins Kino. Mich von Hollywood einlullen, mich von dessen Oberflächlichkeit sanft streicheln lassen. Nein, ich brauche etwas, das mich aufweckt, mich bis tief ins Mark erschüttert, mir Angst macht, mir meine Sterblichkeit vor Augen führt. Eine neue, tiefschürfende Wunde! Ich müsste ins Leichenschau- oder Irrenhaus. Oder in die Mur springen und gerade noch aus den Fluten gerettet werden.
Nein, ich gehe ins Theater, dort wo die Literatur zu Hause ist. Meine Definition von Literatur: Geschriebenes, das Emotionen hervorbringt, oder zumindest merklich vom Herzen und der Wahrheit nahekommt. Das ist es, was ich suche! Das ist es, das dem Fleischroboter Einhalt gebietet! Ängste und Gefühle, die mich wieder zum Homo Artis transformieren!
Ich betrete den Grazer Schauspieltempel und erstehe eine Eintrittskarte für ein Stück nach einem Roman von Sándor Márai: Die Glut. Man nimmt im Zuschauerraum Platz und wartet gespannt: Helmut Lohner fährt uns mitsamt der Bühne entgegen. Dann wütet er. Dann zerrüttet er erbarmungslos, wie nur ein solcher Schauspieler zerrütten kann. Ein Aufschrei, zuerst er, dann in mir. Sándor Márai stellt mit Helmut Lohners Stimme Fragen, deren Antworten unangenehm sind, weil die Wahrheit brennt und nur für die Stärksten auserkoren ist – für diejenigen, die Fleischroboter – das heißt: sich selbst! – bezwingen; für diejenigen, die sich Träume wie Ballone aufblasen und davonschweben; für diejenigen, die die Wahrheit aushalten und dafür die geistige Gesundheit mit einem Lachen opfern; für diejenigen, die danach trachten, mutig zu sein. Hinter mir sitzt eine Frau, die lauthals verkündet, dass sie es nicht mehr ertragen könne. Helmut Lohner und Sándor Márai zermürben mich mit jedem Wort, werden nun unverschämt, beschuldigen mich, werfen mir meine Schwächen vor, heißen mich einen Verräter: ich habe meinen Traum verraten! Ich sei ein Schwächling, der keine Achtung vor der Kunst hätte! Ich wäre meinen eigenen Traum nicht wert! Diese verdiente Abreibung beschämte mich. Lebensrettendes, nützliches Schamgefühl! Dann verbeugt sich Helmut Lohner vor mir und ich juble ihm mit Tränen auf den Wangen zu. Ich würde ihm gerne dankend die Hände küssen. Er hat mir meinen Traum, mein Leben gerettet. Für heute!
Jeden Tag immer früher nach Hause kommen!
Den Fleischroboter rosten lassen!
Schreiben!
Sich über die Texte wenig Gedanken machen: sie sprechen zu einem, oder sie schweigen.
Du bist immer dann am besten, wenn’s dir eigentlich egal ist, „das Lied vom Scheitern“.
Ausgehen und sich von den Menschen inspirieren lassen! Mit ihnen schwatzen, sie lieben und sie nehmen, wie sie sind.
Schreiben und den Mut nicht verlieren.
An Verlage schicken, sie bis aufs Blut quälen.
Ausgehen, den Fleischroboter demontieren.
Ausgehen, und den Traum, das Schreiben, leben.